
Was ist Selbsterkenntnis? – Kommt drauf an.
Selbsterkenntnis bezogen auf Körper, Geist und Psyche bedeutet etwas anderes als spirituelle Selbsterkenntnis. Dass dafür dasselbe Wort verwendet wird, führt oft zu Missverständnissen.
Teil 1 – psychologische Selbsterkenntnis
Psychologische Selbsterkenntnis meint, sich darüber immer klarer zu werden, wie weit die eigene Prägung von früher die Handlungen, Gedanken, Haltungen aus der Gegenwart bestimmen, also im Prinzip, wie weit das Leben automatisiert verläuft. Auf die Erkenntnisse folgen im besten Fall auch Aktionen und Korrekturen. Zum Beispiel bewusster zu entscheiden, sogar Unbequemlichkeiten inkauf zu nehmen, um sich selbst wunschgemäß zu verändern, um den eigenen Ansprüchen gerecht zu werden statt den ‚mitgegebenen‘. Welche das sind, ist individuell. Eine Person möchte vielleicht üben, freundlicher und offener zu sein, eine andere Person dagegen möchte sich abgewöhnen, aus Reflex Gesten der Harmlosigkeit und Freundlichkeit zu machen gegenüber Leuten, die sich feindselig und grenzüberschreitend zeigen (z.B. Nazis anzulächeln und zu fragen, warum sie sie nicht akzeptieren). So oder so ist jede Veränderung vom Prägungsmodus in den selbstgewählten Modus mit Anstrengung, Experimenten und viel Übung verbunden. Solche Wege fordern Mut und viel Geduld mit sich selbst.
Selbsterkenntnis schließt auch mit ein, die eigenen Veranlagungen und Grenzen kennen und akzeptieren zu lernen. Sich nichts vorzumachen über sie. Das erfordert ebenfalls viele Experimente und Beobachtung über eine lange Zeit. Es ist nicht leicht, sich selbst einzuschätzen, nicht nur was die Grenzen angeht, sondern auch was die Möglichkeiten angeht. Meistens irren wir uns nach oben oder nach unten, je nach unserer Prägung. Eine gute Einschätzung wäre zum Beispiel, nicht davon auszugehen, genauso gut singen zu können wie Mariah Carey, und gleichzeitig nicht davon auszugehen, dass es sinnlos wäre, eine Gesangskarriere zu verfolgen, nur weil man nicht singen kann. Viele Menschen, die nicht singen können, hatten und haben erfolgreiche und erfüllende Gesangskarrieren. Für erfolgreiche Selbsterkenntnis der eigenen Möglichkeiten sind externe Realitätschecks oft hilfreich.
Psychologische Selbsterkenntnis schließt Körper und Geist mit ein.
Denn wir nehmen Körper und Geist durch unsere Psyche gefärbt wahr, und beurteilen sie dort. Selbsterkenntnis ist, zu lernen, was dieser individuelle Körper braucht, wie dieses individuelle Gehirn veranlagt ist, jenseits davon wie wir das gern hätten. Auch das Nervenkostüm – das Betriebssystem – zu kennen, gehört zu psychologischer Selbsterkenntnis. Zu wissen, wie das eigene System unter Druck agiert und interagiert, was es fürchtet, welche Tendenzen es hat. Zu entscheiden, was ich davon behalten möchte, und was ich verändern möchte, sollte ich am besten bestimmen auf der Basis davon, es gut zu kennen (weil ich es ansonsten nur irgendwohin nötige, was ihm gar nicht entspricht), und natürlich anhand dessen, womit ich glücklich bin und was mich ausgleicht, nicht anhand dessen, wie ich am besten meinen Ängsten ausweichen kann. Dabei ist hilftreich, sich zu erinnern, dass Ängste kein Teil der Identität sind.
Das alles lässt sich zusammenfassen unter psychologische Selbsterkenntnis. An der führt kein Weg vorbei für alle, die selbstbestimmt glücklich leben wollen.
Selbsterkenntnis und Selbstverbesserung stehen in einer Wechselwirkung.
Versuche, sich zu verbessern, ohne die echten Beweggründe zu kennen (nicht nur die verkopften, angenehmen, die wir zugeben wollen), können Perfektionismus und eine nicht zugewandte Haltung sich selbst gegenüber befördern.
Selbsterkenntnis als Schlüssel zu Verbindung
Erst wenn ich mich getraue, mir schmerzhafte prägende alte Umstände genauer anzusehen, ermögliche ich Anderen, sich in mir wiederzufinden. Und ermögliche es mir selbst, Unterstützung wirksam geben und erhalten zu können. In dem Moment, in dem ich Angst in mir selbst nicht mehr über meine Fragen bestimmen lasse, bin ich authentisch. Das wiederum ist Voraussetzung dafür, wirklich gute Beziehungen, Gespräche und Kontakte mit Mitmenschen zu haben. (Das ist keine Aufforderung zu Trauma-dumping, sondern dazu, sich selbst zu hinterfragen, wo der Schutzpanzer liegt, und ob man ihn in dem Alter wirklich noch braucht).
Ein Leben, im dem Ablenkung, Vermeidung, Kompensation oder dauernde Suche nach Trost eine entscheidende Rolle spielen, ist viel schwerer und weniger zufriedenstellend, als sich kennenzulernen, Geduld und Solidarität mit sich selbst zu üben, und sich auf den Weg zu machen hin zu der Version von sich, die nichts mehr vor sich selbst zu verstecken hat.
Spirituelle Selbsterkenntnis ist nicht notwendig für psychologische Selbsterkenntnis. Selbsterkenntnis bezogen auf Spiritualität hat eine andere Bedeutung. Das soll im nächsten Teil untersucht werden.