Seit 2025 ist es in Deutschland möglich, den Geschlechtseintrag „divers“ zu wählen oder ihn ganz streichen zu lassen (mit denselben behördlichen Folgen), ohne sich dafür ärztlichen Gutachten oder gerichtlichen Verfahren unterziehen zu müssen. Für viele nichtbinäre Menschen ein überfälliger Schritt.
Und doch ist diese Möglichkeit zu nutzen nicht immer automatisch eine Bewegung in Richtung Freiheit.
In den letzten Wochen hatte ich im Rahmen von Seelsorge Gespräche mit Menschen verschiedenen Alters über Abwägungen und Bedenken, den Schritt zu gehen. Ich habe mich auch selbst befragt, ob ich meinen Eintrag korrigiert haben will. Dabei tauchten immer mehr Dilemmata auf, die der Geschlechtseintrag „divers“ insbesondere für Schwarze Personen aufwirft. Online war dazu nichts zu finden. Daher sollen hier einige Probleme damit sichtbarer gemacht werden – auf allgemeiner Ebene, ohne Bezug auf konkrete Gespräche – auf dass sie zur Diskussion beitragen mögen, vielleicht auch ein wenig Druck aus persönlicher Entscheidungsfindung nehmen, und um zu erinnern, dass Abwägen ein innerer Weg ist.
Vorab:
Der Eintrag dokumentiert etwas Persönliches (wie z.B. auch Alter oder Wohnort, welche auch keine öffentlichen für alle sichtbaren Daten sind).
Wer sich nicht verstellt, um die Erwartungen einer Geschlechternorm zu erfüllen, ist nicht dadurch „weniger Frau“ oder „weniger Mann“, sondern nur weniger in diesen Kategorien kontrollierbar.
Außerhalb des binären w/m Geschlechterkonstrukts zu stehen, bedeutet nicht automatisch, etwas anderes als weiblich und/oder männlich zu sein. Manche Menschen sind beides, manche haben ein anderes Geschlecht, das Elemente von m/w enthält, manche bewegen sich zwischen den beiden Geschlechterkategorien. Womöglich ist jede Person ein eigenes Geschlechtsspektrum.
Für Viele ist Gender ein wichtiger Teil der Identität. Der Geschlechtseintrag ist aber nicht dasselbe wie die geschlechtliche Identität.
Sicherheitsbedenken
Im Reisepass zeigt ein „X“ den nichtbinären Geschlechtseintrag offen lesbar an. In den meisten Ländern wird dieser Eintrag nicht anerkannt, in manchen ist sogar die Einreise/Durchreise untersagt oder mit Verhaftung zu rechnen. Reisen können so zur Gefahr werden. Es ist zwar möglich, trotz „diversem“ Geschlechtseintrag zu beantragen, dass im Reisepass der alte binäre Eintrag stehen soll anstatt „X“. Diese Möglichkeit gibt es jetzt aber nur noch für Personen, die mit einer ärztlichen Bescheinigung nachweisen, dass sie eine „Variante der Geschlechtsentwicklung“ haben. (Mehr und Genaueres dazu ist nachzulesen bei sbgg.info https://sbgg.info/passgesetz/ ). Das ist nun aber genau das, was das Selbstbestimmungsgesetz verfassungsrechtlich eigentlich korrigieren sollte: pathologisierende Fremdbestimmung.
Im Inland plant einstweilen Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU) ein Sonderregister für alle, die den Geschlechtseintrag geändert haben, angeblich zur besseren „Verwaltung“. Wer einen „divers“-Eintrag trägt, wird demnach nie wieder behördlich „passen“ können. Je nach politischer Entwicklung kann das ernsthafte Risiken mit sich bringen. Nicht nur beim Umstieg in den USA oder Dubai, sondern auch in Deutschland, wo rechtsextreme Netzwerke tief in staatliche Strukturen reichen. Für Schwarze Personen, die ihren Geschlechtseintrag ändern ließen, potenziert sich die Gefahr, zur Zielscheibe zu werden.
Ebenfalls unterdiskutiert in dem Zusammenhang: Nichtbinäre Personen können ihren Vornamen nur ändern, wenn sie gleichzeitig auch den Geschlechtseintrag ändern. Wenn Alex in Perso und Geburtsurkunde „Hildegard“ stehen hat, und ganz sicher keine Frau ist, aber eben auch kein Mann, ist Alex nach dem Gesetz, das Diskriminierung eigentlich verringern soll, jetzt dazu gezwungen, sich entweder ärztlich mit Eingriff in die Intimsphäre untersuchen und attestieren zu lassen, oder sich per Reisepass zu zwangs-outen. Für Personen mit m/w Geschlechtseintrag gilt das nicht.
Womanistische Solidarität
Butches, maskulin auftretende und andere nicht-konforme Frauen sind zentral für die kollektive Würde aller Frauen. Sie verweigern sich sichtbar Anpassungsdruck, sie halten Weiblichkeit und Frausein weit und durchlässig, und sie halten die Türen und Herzen auf für die, die nicht sicher aus ihrer Genderkategorie „aussteigen“ können, oder das nicht wollen. Wenn Geschlecht die Erscheinungsformen, die außerhalb der sozialen Erwartungen liegen, nicht beinhaltet, verliert es an Ausdrucksvielfalt und Schutz.
Für viele Schwarze Frauen geschieht das Anerkanntwerden in der Kategorie „Frau“ nicht automatisch sondern muss erkämpft werden. Schwarze Frauen, die keine Unterwürfigkeit zeigen, werden besonders oft und offen mit beleidigenden Absichten als Mann oder transgender bezeichnet. Nicht nur erfolgreiche Athletinnen oder Michelle Obama, sondern auch solche, die nicht in der Öffentlichkeit stehen. Die historische und laufende Marginalisierung Schwarzer Frauen kann es schwer machen, die Kategorie „weiblich“ als rein persönliche oder neutrale Bezeichnung zu betrachten. Geschlechterkategorien geschehen auf sozialer Basis. Mehrere Schwarze feministische Theorien behandeln, dass Schwarze Frauen aus gemeinsamen Erfahrungen und Lebensbedingungen eine spezifische Gender-Erfahrung haben, die mit weißer Gender-Erfahrung (oder feministischer Erfahrung) nicht unbedingt immer zusammenfällt. Oyèrónkẹ́ Oyěwùmí beschreibt in „The Invention of Women“ („Die Erfindung der Frauen“), dass in Yoruba-Gesellschaften Sprache und Rollen geschlechterneutral organisiert sind, bis ihnen ein binäres Geschlechterdenken westlicher Herkunft aufgezwungen wurde.
Alles das wirft Fragen auf: Wessen Geschlechterordnung meinen wir überhaupt, wenn das System Schwarze Frauen systematisch anders behandelt oder eigentlich gar nicht als Teil der normativen Kategorien sieht? Wer wird in den Genderkonstrukten überhaupt gemeint, gesehen, geschützt?
Es gibt zunehmend Austausch und Community für gender-nichtkonforme und auch nichtbinäre Menschen innerhalb der Mann/Frau Schubladen. Sichtbarkeit und Verständnis für Gender-Identität jenseits patriarchaler Schablonen nehmen zu. Sich im Geschlechtseintrag von der binären Kategorie zu lösen, kann sich wie ein Verrat anfühlen an der Gruppe derer, die fluide innerhalb der Kategorien bleiben – oder sogar wie Verrat an der eigenen Biografie. Es kann erscheinen wie wie ein Entzug der Unterstützung derer, die diese Wahl nicht haben oder sich anders entschieden haben. (Dazu inwieweit solche Überlegungen die eigene Entscheidung beeinflussen sollten, unten mehr.)
Verlust und Trauer
Ein Geschlechtseintrag ist nicht nur eine Selbstbezeichnung, sondern ein Ort gesellschaftlicher Zuordnung. Auch wer sich möglicherweise nie zu hundert Prozent mit w/m identifiziert hat, ist dennoch mit der Gruppe aufgewachsen und kann in ihr willkommen gewesen sein. (Zugehörigkeit bedeutet nicht unbedingt Reibunsglosigkeit.)
Manche berichten davon, dass ihr emanzipativer Schritt aus der „weiblich“-Kategorie heraus mit Gefühlen von Trauer verbunden war, nicht wegen ihrer Identität, sondern bezogen auf kollektive Geschichte, politische Kämpfe und Zugehörigkeiten.
Eine Überlegung für die, denen es gerade so geht: Nähe, Solidarität und Momente stillen oder lautstarken Einvernehmens geschehen nicht aus soziologischen Gründen, sondern in erster Linie von Mensch zu Mensch und über geteiltes Erleben und geteilte Geschichte. Ein Wechsel des Eintrags muss nicht als „Exit“ verstanden werden. Der Eintrag bestimmt nicht das Geschlecht, sondern die Geschlechtsidentität bestimmt es, und der Eintrag dokumentiert dies für Behörden. So wie der Eintrag des Wohnortes nicht den Wohnort bestimmt, sondern ihn nur aufschreibt. Der Eintrag macht keine binäre zur nichtbinären Person. Sie waren schon vorher nichtbinäre Personen, solche, die sich mit dem ihnen zugewiesenen Geschlecht solidarisiert oder in manchen Aspekten vielleicht auch identifiziert haben. Wer nichtbinären Menschen aufgrund ihrer persönlichen Emanzipation „Geschlechtervertrauen“ entzieht, ist generell eher nicht die beste Ansprechperson zum Thema Geschlechtersolidarität.
Teil des Konstrukts?
Die Kategorie „divers“ (= „irgendwie was anderes halt“) kann das binäre System bestätigen. Wer in sie wechselt, wird als ‚abweichend‘ markiert. Wenn ein nichtbinärer Eintrag die Abweichung sichtbar macht, aber nicht die Rahmenbedingungen verändert, inwiefern stellt er dann eine Unterstützung dar und nicht nur eine Duldung?
Manche Menschen empfinden dieses Paradox als weitere Platzzuweisung, von einem System, das Ausschluss jetzt nur anders produziert. Es ist jedenfalls ein Dilemma, das der Person auferlegt wird, gesellschaftlich getragen und politisch zu lösen sein wird.
Aktivistischer Druck
In politisierten Gruppen kann es Tendenzen geben, zu erwarten, dass alle dieselbe Auffassung (und Kapazität) haben sollen, was Repräsentation und Aktionen betrifft. Selbsterhalt und Gesundheit stellen aber oft ganz andere Anforderungen. In diesem Spannungsfeld „das Richtige zu tun“, ist oft nicht möglich, da die Beurteilungen von „richtig“ und „wichtig“ darin gegensätzlich sind. Das zu benennen, und sich weder in Selbstaufgabe noch in Rechtfertigungsschleifen wiederzufinden, ist sehr schwer und risikoreich. Schwarze Menschen kennen das in besonderem Ausmaß -und potenziert- in der Form, wenn weiße politische Gruppen von ihnen Aktionen verlangen oder erwarten, die für sie überproportional gefährlich oder schädlich sind, wie zum Beispiel öffentlichen Protest oder Beteiligung an gruppeninternen Öffnungsprozessen.
Du sollst sichtbar sein, aber auf dich aufpassen. Du sollst politisch sein aber nicht instrumentalisierbar. Du sollst andere stützen können aber dich nie zurückziehen. Du sollst Vielfalt zeigen und Zugehörigkeit, und das alls möglichst so, wie wir es gerne hätten…
Wenn die Entscheidung zum „divers“-Geschlechtseintrag vom genderpolitischen Umfeld als Bekenntnis oder Absage gelesen wird, finden gerade mehrfach Marginalisierte sich in der Situation, dass sie schon wieder nicht authentisch akzeptiert werden.
In Wirklichkeit ist die Entscheidung über einen „divers“-Eintrag aber weder automatisch ein Akt der Befreiung noch ein Zeichen von Rückzug. Sie ist gar nicht unbedingt überhaupt ein Zeichen. Nichtbinäre Menschen sind mehr als wandelnde Symbole. Sie müssen ihre persönlichen Abwägungen nicht auf der Basis politischer Wirksamkeit treffen.
Für Gruppen, Befreundete und Nahestehende: ° Solidarität ist, denen, die schwer sanktioniert werden, beizustehen, ohne eine Rechtfertigung oder Erklärung von ihnen zu erwarten. Sie müssen sich auch nicht für andere „nachvollziehbar“ geben, sondern sollten darin unterstützt werden, dass sie möglichst selbstbestimmt handeln können. ° Neugier ist kein Sachzwang, sondern ein guter Anlass, Selbstkontrolle zu üben. Nachfragen nach dem Eintrag sind grenzüberschreitend, wenn die Person ihren eigenen Eintrag nicht von sich aus thematisiert. Wenn Gruppen queer, politisch und offen sind, erwächst daraus noch keine Berechtigung, intimste Daten abzufragen. Auch aus einem aktivistischen Modus heraus sind Bündnisse und Gespräche besser geleitet von Geduld und Fingerspitzengefühl, und auf der Basis von Liebe, Verständnis und Respekt.
Spirituelle Ungewohnheiten
Die Frage, welchen Eintrag ich wähle, ist nicht „Wer bin ich wahrhaftig?“ Sondern: Welche Behördenzuschreibung und deren Folgen kann ich im Moment auf weltlicher Ebene am ehesten tolerieren.
Zu leiden unter amtlichem Misgendern ist kein spiritueller Test oder zu erduldendes karmisches Los. In spiritueller Hinsicht sind Gesundheit, Sicherheit und Nachhaltigkeit wichtig, weil Angst oder innere Dissonanz spirituelle Fortschritte stark erschweren. Aus religiöser Sicht lässt sich bedenken, dass der Eintrag nicht ausschlaggebend ist. Wenn es eine übergeordnete omnipräsente Macht gibt, erhält diese ihre Informationen nicht aus dem Standesamt.
Es kann auch Bedenken darüber geben, mit dem Eintrag „divers“ die Kategorien zu verlassen, die manche Religionen vorzuschreiben scheinen. Dazu drei Überlegungen: – weniger bekannte Texte halten oft überraschende Genderfluiditäten bereit. Die Predigt ist nicht immer dasselbe wie die Religion. – Der Geschlechtseintrag, „keine Angabe“ statt „divers“ lässt gar keine Rückschlüsse auf Geschlechtsidentität zu und könnte zum Beispiel auch rein aus Gründen allumfassender Geschwisterlichkeit gewählt werden. – Nichtbinär ist nicht das Gegenteil von binär. So wie Nichtdualität (Nicht-Zweiheit / Advaita) nicht das Gegenteil von Dualität ist, sondern die Abwesenheit von Trennung. Nichtbinär oder auch Nichtdual zu leben heißt nicht, alles eigenhändig aufzulösen zu müssen, sondern in erster Linie, Trennendes zu durchschauen.
Freiheit der Entscheidung
Es ist genauso legitim, zu sagen „Ich verweigere, dass der Staat mir sein Konstrukt überstülpt“ wie darüber glücklich zu sein, sich endlich amtlich repräsentiert zu sehen und Misgendern besser beenden zu können.
Keine der Entscheidungen ist richtig oder falsch. Und nicht jede Entscheidung ist ein Statement.
Etwas zu wissen, zu vertreten oder zu repräsentieren, und eine behördliche Korrektur vorzunehmen, sind verschiedene Vorgänge, die sich gegenseitig nicht ursächlich legitimieren.
Gemeinsame Geschichte, Unbeugsamkeit, zusammen gewachsen zu sein und Perspektiven zu teilen, bezieht sich auf die Person, nicht auf Papiere. So vielfältig die eigene Erfahrung und der eigene Werdegang ist, so fluide und unterschiedlich ist auch das eigene Gefühl und Wissen über Zugehörigkeit, Selbstermächtigung und Authentizität.
Die Entscheidung hängt mit der Gesamtsituation genauso zusammen wie mit Sicherheitsfragen, oder auch mit Überlegungen, die niemand ausser der Person selbst nachvollziehen oder verstehen können muss. Und sie kann sich auch ändern.
Geschlecht ist persönlich, kein Vehikel, um es anderen recht zu machen, weder dem Staat noch der Familie noch einer Clique oder Gemeinde.
Was es braucht, ist mehr Debattenraum für genau diese Ambivalenzen. Und mehr öffentlich zugängliche Informationen zur Orientierung, gerade für Menschen, die nicht über ein stärkendes Netzwerk oder verständnisvolles Umfeld verfügen.
Ich wünsche allen das Beste für ihre Entscheidung,
Mit Liebe,
Swami Dhyānānanda
p.s. Kommentare sind offen (moderiert) und ich freue mich über alle, die etwas mitteilen, fragen, anmerken oder korrigieren möchten.
p.p.s. Broschüre: „DIVERS“ ODER „KEINE ANGABE“? Juristische Informationen, Alltagserfahrungen und Community-Tipps zum Geschlechtseintrag „divers“, zum offenen Eintrag und zu den Regelungen des Selbstbestimmungsgesetzes, herausgegeben von der Landeskoordination Inter* im Queeren Netzwerk Niedersachsen, der Landeskoordination Inter* NRW und der Landeskoordination Trans* NRW