Spirituelle Selbsterkenntnis

Oft wird spirituelle Selbsterkenntnis (oder ihr unübersichtlicher und unseriöserer Schlagwort-Cousin, „spiritueller Durchbruch“) verwechselt damit, ein Erlebnis oder intensive Gefühle gehabt zu haben.
In Wirklichkeit ist spirituelle Selbsterkenntnis (‚self realisation‘) aber in erster Linie, etwas verstanden zu haben.
Ramaṇa Mahaṛṣi fragte „who am I?“ – Wer bin ich?
Den semantisch Kleinlichen unter uns fällt die Erkundung leichter, wenn wir fragen „Was bin ich?“, denn „wer“ setzt bereits Einiges voraus. Bei der Frage, wer bin ich, denke ich zum Beispiel an etwas, das sich in Relation befindet, und das mit Worten definierbar ist. Das sind Einschränkungen, die in einigen spirituellen Philosophien bereits Erkenntnis verbauen.
Fragen auf dem Weg zur Selbsterkenntnis sind in vielen Religionen und spirituellen Richtungen die Fragen nach dem Verhältnis von „mir“, dem Individuum, zur Welt, zum Universum und zum Höchsten Prinzip (um nicht die Vokabel „Gott“ zu verwenden, die an Vorschriften und patriarchale Autoritätsfigur denken lässt, unabhängig davon, wie sie gemeint ist).
Stoffliches Universum und Schöpfung sind im spirituellen Sinne nicht das Höchste, sondern sie sind – je nach Glaubensrichtung – Spielfläche oder Einbildung. Im spirituellen Sinn ist das Höchste der Ursprung, das intelligente Prinzip (in manchen Glauben auch Willensprinzip), von dem Schöpfung ausgeht.
Was ist „ich“ im Verhältnis dazu?1Vedānta beantwortet es mit „Tat tvam“ – das bist du.
Einer Antwort auf die Spur gekommen zu sein, und diese in einer für sich selbst akzeptablen Weise integriert zu haben, geht mit einem Perspektivwechsel einher. Das meint Selbsterkenntnis imspirituellen Sinn.
Je nach Glaubensrichtung fallen die Antworten unterschiedlich aus, und wir werden auf unterschiedliche Art ermutigt, sie zu erlangen: Wir sollen sie hören, akzeptieren und nicht hinterfragen, oder wir sollen sie erkunden bis sie sich uns durch Meditation selbst eröffnen, oder wir sollen sie studieren und dabei wach und kritisch bleiben, bis wir zu einer Überzeugung gelangt sind, etc…
Für die Studien und Erkundungen dieser Fragen ist psychologische Selbsterkenntnis nicht zwingend notwendig, aber nützlich. Denn psychologische oder weltliche Selbsterkenntnis führt dazu, dass das Ego reift, ausgeglichen wird und in Bahnen gebracht, die persönlicher und spiritueller Weiterentwicklung zuträglich sind.
Es besteht dann weniger Gefahr, Augenwischerei und Wunschdenken anheimzufallen, und es ist einfacher, sich auf etwas interessiert einzulassen.
Mit reifem Ego sinkt auch die Gefahr, manipuliert zu werden.
Selbstschutz ist in religiösen Settings schon eine gute Idee. Er fällt leichter, wenn ich nicht zu 90% damit beschäftigt bin, mein Selbstbild aufrechtzuerhalten.
Es gibt einen gewissen spirituellen Anfangszustand, in dem das Ego den Fortschritt sabotiert. Das äußert sich darin, dauernd zeigen zu wollen, was ich schon alles weiß, oder viel Energie aufzuwenden auf Debatte um der Debatte willen (nicht, um etwas zu hinterfragen oder erstmal zu verstehen). Vielen ist nicht bewusst, dass sie in diesem Zustand besonders anfällig für (spirituell oder religiös kostümierte) Manipulation sind.
Um existenzielle Fragen überhaupt zuzulassen oder ordentlich erkunden zu können, ist Voraussetzung, dass mein Ego mir Offenheit überhaupt erlaubt. Wenn ich darauf bestehe, die Antworten eh schon zu wissen, ist das nicht der Fall. Wenn ich lieber fachsimpeln will statt Fragen zu stellen und mit den Fragen Zeit zu verbringen, hat mein Ego mich auflaufen lassen (das Ego würde es „beschützt“ nennen; davor, sich Unwissenheit einzugestehen, was es gern mit Tod und Abgrund-der-Verdammnis verwechselt).
Auch wenn ich möchte, dass Spiritualität sich um Erlebnisse dreht, die ich habe, und nicht um spirituelle Wissensarchive, schränke ich ein, was für mich aus der Erkundung herauszuholen ist.
Sich „Gott“ nach eigenen Vorstellungen zu denken oder spirituelles Entertainment zu konsumieren, ist nicht verwerflich. Es ist allerdings eine Abbiegung in Richtung Trost statt Selbsterkenntnis. Tröstender Zeitvertreib und ein gutes Gefühl sind unter anderem deswegen attraktiv, weil sie keine Auseinandersetzung verlangen und das Selbstbild nicht infrage stellen. Ein reifes Ego ist dagegen besser in der Lage, Spiritualität zu erkunden und zu erfahren in einer Weise, die zielführend ist, statt zu versuchen, sie zu kontrollieren, und dabei gleichzeitig offen zu bleiben. Das ist eine Kunst für sich.
Mehr über das Ego – und warum es besser ist als sein Ruf – in einem kommenden Beitrag.